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Spiralen, geschichtet
Agnieszka Roguski

Als Kind habe er sich manchmal aus einer unbestimmten Mischung aus Langeweile und Neugier um sich selbst gedreht, bis er nicht mehr konnte, erzählt mir ein Bekannter. Heute probiert er das wieder aus, wenn er Zeitlöcher stopfen muss. Zwei Stunden hat er geschafft letztens. Auf meinem Handydisplay versammelt Youtube unter dem Stichwort „Drehende Derwische“ Videos, in denen sich Männer in Trance drehen, während ihre weiten weißen Röcke wie Pilzhüte um ihre Beine flattern. Sie betonen damit die Hingabe an eine dem Islam gewidmete asketische Lebensführung, die das Denken und Wollen ihres Charakters disziplinieren soll. In großen Bögen drehen wir uns mit dem Auto hinein nach Viseu, Kreisverkehr um Kreisverkehr. Mood! Cosmic Dance. 

 

Auf einem Gebäude, das auf den ersten Blick aussieht wie die ausgeblichene Variante eines Supermarktes der 90er, lese ich in dicken Buchstaben „A Maior“. In den Schaufenstern laden Arrangements zum Einkaufen ein, die ich nicht verstehe. Tokyo is blooming just for us. Bunte Unterhosen der Marke „Ghlain Klein“ liegen auf einer Art plüschigem Fußabtreter mit Tigermuster, chinesische Importware auf knapp dreitausend Quadratmetern in der portugiesischen Provinzstadt Viseu, Shopping sieben Tage die Woche. Es quietscht metallisch, als ich die Eingangs-Schranke aufschiebe. You break it you fix it. Smiley Face. Ich rieche Plastik und Räucherstäbchen, oder Räucherstäbchen in Plastik, Strawberry, Luna, Canela, Kamasutra. Buddhas in Luftpolsterfolie thronen auf dem Regalbrett über Kerzen für katholische Friedhöfe. Vai de Retro Satan. Blaue Mäuse, rosa Hasen und schlafende Emojis warten darauf, an Kinderfüßen durchs Leben getragen zu werden. Dazwischen ragen grüne Bürstenköpfe hervor, auf den Stapeln ruhen grell-bunte Teppiche, die sowohl Decke als auch Bodenbelag sein könnten. Eine Form zeichnet sich ab, die mehr als ein Schuhregal zu sein verspricht. Lachend oder schweigend könnte sie die Waren kommentieren, die um sie herum aufgebaut bereit stehen. Angel Goddess. 

 

Während Kunden ihre Mittagsruhe durch Shopping beenden, läuft ein Remix von Tears for Fears’ Mad World im lokalen Radiosender. Die Konzentration der Kunden wandert die Preisschilder und Produktpaletten entlang; nur selten macht sie an den eigentümlichen Kreaturen und Arrangements halt, die sich aus ihnen herausbilden. Einige von ihnen stammen von Quynh Dong. Nach mehreren Tagen inmitten der Fülle dessen, was den Namen „Warenhaus“ verdient hat, hat die Künstlerin Elemente des Angebots so kombiniert, dass aus ihnen bunte Monster aus Plastikbehältern, Teppich-Schichten und Kunststoffborsten hervortreten. Mit ihnen wurde jedoch nichts Neues zum Leben erweckt, sondern das bestehende Leben mit einem weiteren Aspekt des Gleichen überlagert – ähnlich einer höheren Oktave, die zwar schriller klingt, aber der gleichen Tonart angehört. Manche Kunden wundern sich über die neuen Elemente; diejenigen, die öfter kommen, sind an Verschiebungen und Veränderungen innerhalb von „A Maior“ gewöhnt. Bruno Zhu, selbst Künstler und Sohn des Inhabers, hat hier bereits eine Modenschau realisiert; Relikte vergangener Kunstprojekte sind hier und da Teil der Warenpräsentation. Die Logik von Import–Export, so könnte man sagen, hat sich tief in den Raum hineinübersetzt; sie nimmt Platz zwischen anwesendem (lokalen) und abwesendem (digitalen) Publikum, zwischen Generationen, sozialen Gruppen und Nischen, genauso wie zwischen Preissegmenten und Regalfächern. Romantic love is the devil’s work, Lalabra. Move the fat. Die Codes chinesischer Interpretationen des Englischen werben für einen großen Busen und bunte Fingernägel, kombinieren sich durch das Warensortiment hindurch und werden immer selbstverständlicher, je mehr man akzeptiert, in ihnen keinen wörtlichen Sinn zu verstehen. Während ich The one and only the invisible Bra in in den Händen halte, streifen dunkle Töne durch die Gänge, als wäre der Popsound der vorigen Stunden zu tief in meine Ohren gesunken. Mir wird kälter, tiefe Stimmen murmeln den bunten Teppichen und flauschigen Tierpantoffeln entgegen. Hinter einem plastikverpackten Karton mit kleinen Katzen sitzt Hunter Longe. Er bearbeitet die Tonspur des Radiosenders, schickt live das Soundsortiment des Raumes durch den Filter der eigenen Wiedergabe. The thickness of edge, die düsteren Klänge und verzerrten Stimmen bilden ein atmosphärisches Nachglühen, das in der Wahrnehmung aller Anwesenden genauso vorhanden ist wie die Überfülle der Kuriositäten; zu präsent, um als außergewöhnlich ausgemacht werden zu können. Und doch bildet sich langsam ein atmosphärischer Ort heraus, der nicht plötzlich stört oder grell aufscheint, sondern sich wie eine weitere Spur in die vielen Ströme des Vorhandenen einschleicht, sich mit ihnen verflechtet und weiterfließt. Quality, höre ich im Loop durch die Lautsprecher, Quantity echot es später zurück.

 

Hunter Longe und Quynh Dong haben einen Raum geschaffen, der entsteht, wenn sich Details aus ihrer Selbstverständlichkeit heraus lösen. Wird daraus etwas Ungeheuerliches? Monströs und düster wirken die Arbeiten von Quynh Dong und Hunter Longe nur im ersten Moment. Danach zeigt sich der ganze Raum in seiner Fülle aus authentischen Fälschungen und Reproduktionen, in denen sich so viele ästhetische und kulturelle Ebenen überlagern, dass eigentlich nichts die Harmonie stört, sondern vielmehr die Harmonie selbst immer schriller, eigenartiger und lauter wird. Am Ausgang werden Blumensamen und Plastikblumen verkauft. Hunter Longes Radio-Sound sinkt wie ein schwerer Teppich in den Ladenraum herab, im Loop wiederholen sich Töne. Eine glitzernde Kugel dreht sich in einem Brunnen, als ich den Raum verlasse. Draußen bestelle ich auf gebrochenem Spanisch schwarzen Kaffee und schaue in einem Fernseher Musikvideos ohne Ton. Say Goodybe to Embarrassment, on the edge all glue, lovely girl!

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